
Vor drei Jahren, am 24. Februar 2022, begann die Invasion der Ukraine durch russische Streitkräfte. Das Entsetzen über den Angriffskrieg auf europäischem Boden setzte schnell ein großes karitatives Engagement frei. Ein ganz besonderes Hilfsprojekt initiierte der ukrainische Student Eldar Dzinvaliuk, der unmittelbar nach Kriegsbeginn auf Wunsch des Vaters gemeinsam mit seiner Freundin Ewa und seiner 8-jährigen Schwester nach Deutschland geflohen und schließlich in Krefeld gelandet war. Im Verbund mit dem katholischen Hochschulzentrum LAKUM organisierte er bis heute 19 Hilfstransporte in das inmitten des Kampfgebiets liegende ukrainische Dörfchen Posad-Pokrovske. Anders als die großen Hilfsorganisationen kann Eldar nicht auf einen riesigen Verwaltungsapparat zurückgreifen, er verlässt sich stattdessen auf Freunde und Familie. Über ein Hilfsprojekt von Herzen und von Mensch zu Mensch — wortwörtlich.
Eldar trägt ein ordentlich geknöpftes schwarzes Polohemd und sitzt aufrecht auf seinem Stuhl. Fragen beantwortet er gewissenhaft, mit auffallender Sachlichkeit und in nahezu akzentfreiem Deutsch. Er habe schon während der Corona-Pandemie in der Ukraine zum Spaß angefangen, ein wenig Deutsch zu lernen, wie er mit einem Blinzeln erzählt. Dass sein Land überfallen wurde, er als 18-Jähriger die Flucht in eine ungewisse Zukunft antreten musste und nur mit Glück überhaupt ausreisen konnte, scheint für ihn keine große Sache zu sein: Die Flucht war einfach eine Notwendigkeit. „Ich fühle mich als Europäer. Mich hier einzufinden und die Sprache zu lernen, ist mir nicht schwergefallen. Für meine Freundin oder meinen Vater war das viel schwieriger, aber heute fühlen auch sie sich sehr wohl hier“, gesteht er. Aktuell studiert er Informatik an der FH Niederrhein. Wo ihn sein Weg hinführen wird, lässt er offen. Alles ist möglich“, sagt er. Doch in seinen Worten stecken nicht etwa adoleszente Orientierungs- oder gar Planlosigkeit, sondern vielmehr Zuversicht und Neugier darauf, was das Leben für ihn bereithält. Auch Matthias Hakes merkt man an, wie sehr ihn der junge Ukrainer beeindruckt hat, als er vor ein paar Jahren an seine Tür klopfte und sich nur mit Händen und Füßen verständigen konnte. „Das ganze Projekt wäre ohne Eldar und seine Familie nicht möglich gewesen. Als er und sein Vater bei mir waren, um mir ihre Idee vorzustellen, war die wichtige Vorarbeit eigentlich schon getan. Wir mussten dann nur noch anfangen“, erklärt der Seelsorger.
Eldar hatte Hakes kurz nach seiner Ankunft in Krefeld kennengelernt. „Wir lebten in einer Flüchtlingsunterkunft in Forstwald, die keine Internetverbindung hatte. Eine solche brauchte ich aber, um mein zu Hause begonnenes Studium online abschließen zu können“, erinnert sich Eldar. In den Räumlichkeiten des Hochschulzentrums LAKUM fand der Informatikstudent geeignete Voraussetzungen — und mit Hakes einen Mann, der ihm sofort Vertrauen entgegenbrachte. „Eldar ist ein besonderer Mensch, der einen schnell für sich gewinnt. Seine Offenheit und Verbindlichkeit, aber auch sein Planungstalent haben unserem Projekt viele Tore geöffnet.“ Die Idee, Hilfstransporte zu organisieren, kam Eldar und seinem Vater, der seiner Familie im Sommer 2022 nach Deutschland gefolgt war, vor ungefähr zwei Jahren: „Wir hatten unser leerstehendes Haus nördlich von Odessa Bekannten überlassen, die ihren Heimatort wegen des Krieges verlassen mussten. Über sie erfuhren wir vom Dorf Posad-Pokrovske, das nahezu vollständig zerstört worden war und fast nur noch von alten Menschen bewohnt wurde“, erzählt Eldar. „Es war uns klar, dass wir etwas tun mussten, um ihnen zu helfen. Mit meinem Vater arbeitete ich einen Plan aus und besuchte dann zahlreiche Hilfsorganisationen, doch niemand interessierte sich für unsere Idee. Wir brauchten aber jemanden, der uns bei der Umsetzung half. Dann erinnerte ich mich an Matthias.“

Bis heute wurden in gemeinsamer Arbeit 19 Lieferungen organisiert, derzeit laufen die Vorbereitungen für die zwanzigste. Im Schnitt schicken Eldar und seine Mitstreiter alle acht Wochen einen Transporter in die Ukraine. In den Anfangstagen war es ein Crafter, zuletzt gingen große Lkw auf Reisen. Papa Dmytro konnte wertvolles Know-how als Zollarbeiter einbringen, als Fahrer fungierte von Beginn an Opa Oleksander, der die rund 4.500 Kilometer ohne Angst zurücklegt. „Für ihn ist es auch eine Gelegenheit, uns zu sehen“, lächelt Eldar. „Manchmal bringt er meine Oma mit, wenn er nach Deutschland kommt, um dieHilfsgüter abzuholen.“ Das Besondere an dieser Ukraine-Hilfe ist aber nicht nur, dass sie im Kern ein Familienbetrieb ist: „Unsere Hilfe ist sehr persönlich, direkt und zielgerichtet“, erläutert Hakes. „Wir stehen in engem Kontakt mit den Dorfbewohnern, reagieren auf akute Bedürfnisse, sorgen dafür, dass die Spenden bei den dafür vorgesehenen Empfängern landen und können den Spendern sogar Fotos schicken, auf denen sie sehen, was mit ihren Sachen passiert ist.“ Zum Beweis scrollt er durch hunderte von Bildern auf seinem Handy, zeigt Videos von kleinen Kindern, die glücklich auf ihrem neuen Fahrrad sitzen, oder das Bild einer alten Frau, die nun endlich einen rollbaren Toilettenstuhl besitzt. „Zu Beginn haben wir viel Werkzeug, Winterkleidung oder Kochgeschirr runtergebracht. Dann Elektroheizkörper oder auch Fahrräder, mit denen die Bewohner ins Nachbardorf radeln konnten. Zuletzt haben sich Kontakte zu Ärzten und Pflegeheimen ergeben, sodass wir auch medizinisches Gerät, Rollstühle oder sogar Krankenbetten liefern konnten“, zählt Hakes auf. Nicht alle Anfragen ergeben auf den ersten Blick Sinn: „Einmal wurden wir nach alten Kerzen gefragt. Die Stummel verarbeiteten die Frauen im Dorf zu Hand- oder auch Konservendoserwärmern für die ukrainischen Soldaten an der Front“, erinnert sich Hakes an eine Anekdote. Der Bedarf reißt nicht ab, denn zur Zerstörung durch Beschuss kommen immer wieder Plünderungen durch die russische Armee.
Ganz wichtig ist den Organisatoren der Aspekt der Nachhaltigkeit: „Das meiste von dem, was wir runterbringen, würde hier weggeworfen werden“, weiß Eldar. „Viele Güter kommen aus Wohnungsauflösungen und Entrümpelungen. Oft sind es nagelneue Sachen, Kühlschränke oder Elektrokleinartikel, die wir einer neuen Bestimmung zuführen.“ Das Gefühl, Menschen in der Not geholfen zu haben, und die Freude über die glücklichen Gesichter der Empfänger macht die viele Arbeit, die dafür nötig ist, vergessen: Die Güter müssen eingesammelt und zwischengelagert, Transportlisten erstellt und vervielfältigt, Zollpapiere ausgefüllt und Helfer für die Beladung des Transporters koordiniert werden. Das alles in ehrenamtlicher Arbeit, ohne großes Budget. „Ich bin den Menschen, die uns dabei helfen unendlich dankbar“, sagt Eldar ernst und sichtlich bewegt. Die über die letzten Jahre gewonnene Erfahrung erleichtert vieles, hinzu kommt ein kontinuierlich wachsendes Netzwerk, aber mit den professionellen Strukturen großer Hilfsorganisationen können Eldar und Hakesnatürlich nicht mithalten. „Wir sind schon länger auf der Suche nach einem größeren, bezahlbaren Lagerraum. Im Moment sammeln wir alle Güter in meiner Garage“, lacht Hakes. „Mein Auto steht darin schon seit zwei Jahren nicht mehr.“ Auch weitere ehrenamtliche Helfer würden nicht schaden: Aktuell verteilt sich die Arbeit auf ein Kernteam von ungefähr zehn Personen. Wer mithelfen möchte, findet auf der Website des LAKUM alle notwendigen Informationen, von einer Liste aktuell benötigter Güter über die Kontaktdaten bis hin zum Spendenkonto.
Getrübt wird die Freude über das Erreichte natürlich weiterhin durch die Tatsache, dass diese Hilfe überhaupt nötig ist. „Es wird Zeit, dass der Wahnsinn endlich aufhört“, schüttelt Hakes verständnislos den Kopf. Eldar wünscht sich zwar ebenfalls nichts sehnlicher als ein Ende des Kriegs in seiner Heimat, aber er wollte schon immer nach Deutschland, um hier zu studieren. Für seine aktuelle Wahlheimat hat er nur gute Worte übrig, er ist dankbar, hier sein zu dürfen und wundert sich über die Unzufriedenheit der Menschen, denen es eigentlich an nichts fehlt. Er weiß: Wenn damals, bei seiner Flucht, ein anderer Grenzbeamter die Passkontrolle durchgeführt hätte, würde er heute keine Hilfstranporte organisieren. Er würde dann vielleicht zusammen mit seiner Familie, Freunden und Bekannten Tag für Tag um sein Leben fürchten, hoffen, dass die Raketeneinschläge sein Haus, seinen Heimatort verfehlen und die Russen nicht zu nah kommen. Manchmal muss man vielleicht einfach auf den wundersamen Lauf der Welt vertrauen. Oder darauf, dass man Menschen wie Eldar begegnet. Menschen, die nicht viele Worte verlieren, aber ein großes Herz haben.
Sie haben einen persönlichen Krefelder Hero oder kennen jemanden, der sich ehrenamtlich engagiert und sich zum Wohle seiner Mitbürger einsetzt? Dann schicken Sie uns eine E-Mail und nominieren Sie Ihren Krefelder Hero! Wir freuen uns auf Ihre Vorschläge!
Hilfsaktion Ukraine
LAKUM Krefeld
Matthias Hakes
Ispelsstraße 67
47805 Krefeld
Telefon: 02151 – 361592
E-Mail: mh@lakum.de
lakum.de/hilfe-ukraine

Fotos: Felix Burandt